Mittwoch, 3. November 2021

#55 Booktalk - Disability Visibility

   Hallo,

im Juni hatte ich die Anthologie "Disability Visibility" von Alice Wong gelesen und dazu passend gibt es heute einen Booktalk.





In den USA hat jeder 5. Mensch eine Behinderung und trotzdem wird weder in der Popkultur noch in den Medien groß beachtet. Kurz vor dem 30jährigen Jubiläum des ADA(Americans with Disabilities Act) brachte die Aktivistin Alice Wong eine Sammlung von verschiedenen Essays geschrieben von verschiedenen Menschen mit Behinderungen genau zu diesem Thema heraus. Was bedeutet es im 21. Jahrhundert eine Behinderung zu haben?

Jeder einzelne Text ist mit einer Triggerwarnung bzw. Content Note versehen, was wirklich schön zu sehen ist. Das sollte selbstverständlich sein und so kann man gewisse Abschnitte ganz einfach überspringen. Oder es halt lesen, wenn man bereit dafür ist. 

Wenn man sich die reinen Zahlen bezüglich Behinderungen in den USA anguckt müsste man ja meinen, dass diese dort viel sichtbarer wären als hier. Und damit meine ich noch nicht einmal klischeehaft Rollstuhlfahrer/innen oder ähnliches. Deshalb fand ich es schon sehr erschreckend, wie wenig die Gesellschaft auf diesen Bevölkerungsteil angepasst ist und wie klein der Aufschrei ist. Schließlich müsste man doch meinen, dass wenigstens zum Beispiel die Ubahnzugänge in einer Metropole barrierefrei sind. Durch die vielen Betroffenen merkt man einfach wie viele Barrieren in der USA existieren und wie wenig es bräuchte um genau diese aus dem Weg zu räumen. Es sollte ein Selbstverständlichkeit sein, dass sich darum gekümmert wird und nicht erst gewartet wird bis der Bedarf dafür groß genug sein wird. Schließlich ist ja auch bekannt, dass viele Menschen erst im Laufe ihres Lebens eine Behinderung bekommen und nicht jeder davon erst im hohen Alter davon betroffen sein wird. 

Oft wird ja nur über Behinderungen gesprochen, wenn irgendein absolut berührender und überzogener Liebesfilm genau das Thema behandelt. In dem es mal wieder darum geht wie toll es ist, wenn eine gesunde Person sich um eine behinderte Person kümmert. Oder diese Person ihre "Einschränkungen" auf bewundernswerte überwinden um irgendetwas großartiges zu leisten. Vieles davon kann man getrost als "inspiration porn" abstempeln und ich hasse es einfach, wenn sich irgendein Filmemacher/Autor genau dieser Narrative bedient. 

Wenn zum Beispiel etwas tragisches in Pflegeeinrichtungen passiert ist das Thema medial auch sehr präsent, aber wirklich nachhaltige Änderungen finden nie statt. Obwohl vielen Leuten bewusst ist, dass das System nicht gut ist und von Grund auf erneuert werden müsste. Und die komplette Gesellschaften davon profitieren würde, wenn gewisse Barrieren wegfallen und viel offener darüber gesprochen wird. Viele haben ohne ihr Wissen mindestens einen Menschen mit Schwerbehinderung in ihrem Umfeld und viel zu viele trauen sich nicht dieses nicht offen zu legen aus Angst vor Diskriminierung oder ähnlichen.

Nach dem Lesen hatte ich mich lange Zeit gefragt wie eine deutsche Version des Buches aussehen würde. Auch wir haben erschreckend viele Barrieren in Deutschland, die man ohne viel Aufwand überwinden könnte. Aber leider stellen sich da viele Behörden quer und man fragt sich, warum dem so ist. Ob sich etwas ändern würde, wenn sich die Betroffenen noch lauter bemerkbar machen würden? Daran glaube ich schon lange nicht mehr. Viel besser ist es, wenn Betroffene in hohe politischer Ämter kommen bzw. überhaupt in Entscheidungen eingebunden werden. 

Was ich jedoch sehr ärgerlich fand bei dem Buch war die Auswahl der Essays. Einige Verfasser haben wirklich sehr gut verständliche, fundierte Meinungen in ihren präsentiert. Während in anderen nur die blanke Wut heraus lesbar ist und man dadurch gar nicht so genau weiß worum es überhaupt geht. Und manche sind einfach einmal komplett am Thema vorbei und so ganz habe ich nicht verstanden, was sie letztendlich im Buch zu suchen hatten. Damit geht es mir noch nicht einmal darum bestimmte Stimmen zu unterbinden, aber für mich wirkten manche Anschuldigungen einfach fehl am Platz an dieser Stelle. Da hätte man besser noch einen Artikel ausgesucht in dem es zum Beispiel um Arztbesuche oder der Umgang mit psychischen Erkrankungen geht. 

An sich haben mir einige Essays in dem Buch wirklich gut gefallen und so ganz weiß ich nicht, ob ich dem gesamten Werk wirklich 4 Sterne vergeben kann. Am liebsten würde ich aufgrund der wenigen fragwürdigen Texte nur 2 Sterne vergeben, aber dass wäre auch nicht okay. Vor allem der Text rund um den Tieraktivisten Peter Singer verdient Aufmerksamkeit, da es einfach noch zu viele Menschen gibt die dieses Gedankengut für vertretbar halten. Behinderungen sind so vielfältig und es macht mich immer wieder wütend, wenn diese extrem diverse Gruppe über einen Kamm geschert wird um bestimmte Ziele durchzusetzen. Oder das Essay über die Abtreibungsrichtlinien in bestimmten US-Bundestaaten, über die hier zu Lande viel zu wenig gesprochen wird. Deshalb ist es schon sehr schade, dass die Auswahl der Artikel so fragwürdig ist und die Qualitätsunterschiede so enorm sind.

Kennt ihr das Buch und wenn ja, wie findet ihr es?

Liebe Grüße

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